Im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode (2008 – 2011) umfasst das Thema „Wohnungslosigkeit“ auf den Seiten 43/44 genau 6 Absätze, was in etwa einer halben Seite entspricht. Zitat:
„Die Vermeidung der Wohnungslosigkeit hat Priorität. […] Die Koalitionspartner wollen deshalb die Personalausstattung der Fachstellen Wohnungslosigkeit so gestalten, dass in jedem Wohnungsnotfall rechtzeitiger aufsuchende Arbeit bei Mieterinnen und Mietern und Vermieterinnen und Vermietern gleistet werden kann.Zur Vermeidung von Wohnungsverlusten soll in Zusammenarbeit mit den Wohnungsbaugesellschaften ein Frühwarnsystem aufgebaut und ein Beratungsangebot für kleinere Vermieter aufgelegt werden. […]Die Koalitionspartner streben an, dass bei Standarderhöhung in der öffentlichen Unterbringung keine Verdrängung besonders schwacher Nutzergruppen (z.B. Menschen ohne gesicherten Aufenthalt) aus den Unterkünften erfolgen soll. […]“
Vertrag über die Zusammenarbeit in der 19. Wahlperiode der Hamburgischen Bürgerschaft, Quelle 1
Im Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode (2015 – 2020) füllt das Thema „Wohnungslosenhilfe“ auf Seite 81/82 etwa 1 ¼ Seiten oder 9 Absätze. Zitat:
„Der Senat setzt sich dafür ein, das Risiko des Wohnungsverlustes zu minimieren. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die präventiven Angebote der Wohnungslosenhilfe gestärkt. […]In der vergangenen Wahlperiode (Anmerkung: 2011 – 2015) wurde unter Beteiligung der Wohlfahrtsverbände das Gesamtkonzept Wohnungslosigkeit entwickelt. Das Konzept enthält wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe und der Öffentlichen Unterbringung. […]Um die Situation für Obdachlose zu verbessern, sollen die fehlenden Plätze in der Öffentlichen Unterbringung zügig geschaffen werden. Die Koalition wird in diesem Zusammenhang psychisch erkrankte Menschen, Frauen, Familien und Alleinerziehenden sowie Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit widmen. […]Die Versorgung von Menschen ohne eigenen Wohnraum und mit wenig Einkommen hat für den Senat große Dringlichkeit. […]In der Vergangenheit hat das Winternotprogramm dafür gesorgt, dass keiner in Hamburg im Winter auf der Straße schlafen muss. Auch in Zukunft soll eine ausreichende Anzahl an Übernachtungsplätzen im Winter für all Menschen in Hamburg, unabhängig von ihrem Rechtsstatus, bereitgestellt werden.“
Koalitionsvertragüber die Zusammenarbeit in der 21. Legislaturperiode der Hamburgischen Bürgerschaft, Quelle 2
Im Koalitionsvertrag für die 22. Legislaturperiode (2020 – 2025) finden sich unter der Überschrift „Wohnungs- und Obdachlosigkeit überwinden“ 9 Absätze auf den Seiten 124/125, was in etwa 1 ½ Seiten entspricht. Zitat:
„[…] Zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit werden die Fachstellen für Wohnungsnotfälle personell verstärkt. […]Auch zukünftig sollen spezielle Angebot, z.B. für Frauen, psychisch kranke Menschen […] vorgehalten werden. […]Nach mehr als 100 Jahren ihres Bestehens werden wir für die Unterkunfts- und Unterstützungseinrichtung PIK As einen Neubau errichten. Dort werden auf einer Fläche von mehr als 1700 m² barrierefrei bis zu 330 Betten, Räume für medizinische Anwendungen, eine ehrenamtliche Küche und eine Schwerpunktpraxis mit sieben Krankenzimmern entstehen. […]“
Koalitionsvertragüber die Zusammenarbeit in der 22. Legislaturperiode der Hamburgischen Bürgerschaft, Quelle 3
In den Jahren 1996, 2002, 2009 sowie 2018 wurden in Hamburg Zählungen bzw. Befragungen von obdachlosen Menschen durchgeführt. (4), (5)
2002 lag die Zahl der Befragten bei 1.281, während 2009 eine geringere Anzahl verzeichnet wurde; 1.029 Menschen befragte man vor 11 Jahren. Die Befragung von 2018 nun förderte im Hellfeld einen signifikanten Anstieg zu Tage: 1.910 Menschen ohne Obdach, wobei die Dunkelziffer sicher erheblich höher liegt. (6), (7)
In einer Stellungnahme der AGFW aus Mai 2019 findet sich eine Einordnung der Ergebnisse sowie konkrete Handlungsempfehlungen. Unter anderem wird hier auf die Verquickung zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungsmarktwirtschaft hingewiesen. (8)
Die Schaffung von Wohnraum und die Vermeidung von Wohnungslosigkeit als präventive Maßnahmen werden in den Koalitionsverträgen der vergangenen Legislaturperioden explizit genannt. Dennoch bleibt an dieser Stelle wohl festzuhalten: Die Bemühungen waren nicht ausreichend, nicht effizient, nicht nachhaltig genug. Über die verschiedenen Defizite wie beispielsweise das unzureichende und kaum am Bedarf orientierte Winternotprogramm der Stadt Hamburg ist an anderen Stellen viel und ausdauernd geschrieben worden.
Es bleibt unverständlich, weshalb die ganztägige Öffnung mit seit Jahren unverminderter Vehemenz abgelehnt wird.
Es bleibt auch unverständlich, weshalb die Stadt die dezentrale Unterbringung der Betroffenen nicht in Betracht zieht. Das Argument, die Beratungsleistung könne dann nicht entsprechend erbracht werden, verfängt nicht.
Es bleibt weiterhin unverständlich, weshalb es sich die Sozialbehörde offenbar zur Aufgabe gemacht hat, den Ist-Zustand zu verwalten, anstatt die Expertise der Fachleute aus den Verbänden und dem Bereich Sozialarbeit als Maßstab oder Richtschnur ihres Handelns anzuerkennen.
Es bleibt ebenfalls unverständlich, weshalb stets über, aber nicht mit den Betroffenen gesprochen wird. Ein Blick nach Berlin oder Stuttgart mag an dieser Stelle hilfreich-erhellend sein.
Und es bleibt festzustellen, dass der nachfolgende Satz aus dem gerade neu gefassten Koalitionsvertrag zwar schön und ernsthaft klingt, jedoch die Schönheit der Worte so wenig ausreicht, wie ernsthaftes Handeln unabdingbar ist:
„Zu den verletzlichsten Gruppen in der Hamburger Stadtgesellschaft gehören Wohnungslose und insbesondere auf der Straße lebende Obdachlose.“
Koalitionsvertragüber die Zusammenarbeit in der 22. Legislaturperiode der Hamburgischen Bürgerschaft, Quelle 3
Die Lobby der betroffenen Menschen mag klein oder fast nicht existent sein, aber diese auch diese kleine Lobby sieht, wie wenig Fortschritt und Nachdruck bei der Thematik, die angeblich von „großer Dringlichkeit“ ist, stattfindet. Weder Wohnungs- noch Obdachlosigkeit werden sich in den kommenden Jahren schlicht von selbst lösen. Es ist dringend geboten, dass der Senat den Nachdruck in seine Taten legt, den die Worte suggerieren.
Die Würde des Menschen ist unantastbar und jeder Mensch hat das Recht auf Wohnen, so steht es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes und in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – schöne Worte, nach denen der Senat zu handeln verpflichtet sein sollte.
Aber nicht nur die Politik ist in der Pflicht. Zu den Paragrafen, dem politischen (Un)Willen, den durch die Wirtschaft diktierten Zwängen gesellen sich Vorurteile, an deren Bestehen oder Abbau jede*r Einzelne als Teil einer Stadt- und Zivilgesellschaft mitwirkt.
Allzu schnell sind Worte wie „Penner“ – auch dieser Tage noch – als Bezeichnung für Menschen ohne Obdach oder als Schimpfwort gebraucht.
Allzu schnell ist die Formel „Selbst schuld, niemand muss obdachlos sein“ aus dem Ärmel gezogen.
Ein Leben auf der Straße führt in aller Regel niemand freiwillig. Sich darüber, als Grundvoraussetzung für die Annäherung und den Umgang mit der Thematik – klar zu sein, ist ein erster Schritt.Die möglichen Gründe für Obdachlosigkeit sind an vielen Stellen mannigfach zusammengefasst worden. (9)
Im Februar 2019 titelte ZEIT ONLINE: „Bald könnte es 1,2 Millionen Menschen ohne Wohnung geben“. (10)
Insofern sollten sich Räder der Politik besser nicht noch eine Legislaturperiode so langsam drehen, wie in der Vergangenheit.
Quellen
- Vertrag über die Zusammenarbeit in der 19. Wahlperiode der Hamburgischen Bürgerschaft
- Koalitionsvertragüber die Zusammenarbeit in der 21. Legislaturperiode der Hamburgischen Bürgerschaft
- Koalitionsvertragüber die Zusammenarbeit in der 22. Legislaturperiode der Hamburgischen Bürgerschaft
- Obdachlose, auf der Straße lebende Menschen in Hamburg 2002, Eine empirische Untersuchung
- Obdachlose, auf der Straße lebende Menschen in Hamburg 2009, Eine empirische Untersuchung
- Hinz&Kunzt: Mindestens 1029 Obdachlose leben in Hamburg
- Studie: Obdach- und wohnungslose Menschen in Hamburg 2018
- AGFW: Befragung obdachloser, auf der Straße lebender Menschen und wohnungsloser, öffentlich-rechtlich untergebrachter Haushalte 2018 in Hamburg, Stellungnahmen
- a) Malteser: Obdachlose in Deutschland: Das verkannte Problem
b) Diakonie: Infoportal zum Thema Obdachlosigkeit - ZEIT Online: Bald könnte es 1,2 Millionen Menschen ohne Wohnung geben