Von Platten und Privatsphäre

Inzwischen sind wir alle so sehr daran gewöhnt, dass irgendwo jemand ein Handy zückt, ein schnelles Foto schießt, das dann möglicherweise mit oder ohne Filter auf irgendeiner Plattform im Internet landet, dass uns die Frage nach der Privatspähre vielleicht nur noch am Rande beschäftigt.
Immer wieder tauchen Fotografien von Betroffenen oder sogenannten Platten im Netz auf. Auf das Leid, das Elend, die Zustände wolle man mit den Bildern aufmerksam machen. Denn ein Bild, so heißt es, sagt mehr als tausend Worte. Es sei doch nur ein Foto, für den guten Zweck und unbedingt gut gemeint, so wird dann häufig erklärt. Wem solle das schon schaden?

Im Laufe der Zeit haben wir Bilder von Menschen gesehen, die – oftmals ohne ihre Zustimmung – in der ihnen verbleibenden Privatheit abgelichtet und online gestellt wurden. Menschen, die im öffentlichen Raum leben sind exponiert und schutzlos. Da findet man den schwarz-weiß in Szene gesetzen Trinker an einer U-Bahn-Haltestelle oder an einem Bahnhof, vielleicht steht ihm sogar die Hose offen, weil die Hände zu taub oder zu zittrig waren, um den Reißverschluss zu schließen.
Erkennbar für die Öffentlichkeit und auf immerda festgehalten sein Gesicht. Man sieht Menschen zusammengerollt zwischen schmutzigen Decken liegen, abseits steht vielleicht ein Einkaufswagen, in dem sich das gesammelte Pfand stapelt, unter einer Brücke kauern sie, deren Bauart so markant ist, dass selbst ein Tourist sie mühellos fände, Einheimische aber mit einem Blick wissen, wo sich die Lagerstätte befindet.
Da findet man Bilder von Menschen, die in einer Badewanne sitzen, die Intimsphäre spärlich von Schaum bedeckt. Man sieht zusammengekauerte Gestalten in Hauseingängen liegen, notdürftig bedeckt mit einer Jacke, die zu dünn für die herrschenden Temperaturen ist.
Da findet man Profilbilder über denen die Buchstaben „R.I.P.“ stehen, ohne Annerkenntnis wenigstens der letzten Ruhe.
Das Internet vergisst selten.

Stellen wir uns eine Platte doch einmal wie ein Wohnzimmer, unser Wohnzimmer vor. Sagen wir, wir liegen an einem gewöhnlichen Nachmittag auf der Couch, vielleicht sehen wir ein bisschen zerrüttet aus, weil die Woche anstrengend war oder wir krank sind. Und nun in dieser Situation, in der wir uns unter Umständen nicht besonders wohl fühlen oder die wir gar nicht bewusst steuern können, weil wir beispielsweise schlafen, springt ein fremder Mensch auf uns zu und betätigt den Auslöser einer Kamera. Hält uns bis auf weiteres in diesem für uns unguten Moment fest. Was wäre das wohl für ein Gefühl? Und wie würde sich dieses Gefühl entwickeln, sähen wir uns dann irgendwo im Netz oder erzählte uns auch nur jemand davon, dass wir dort zu sehen sind?
Vermutlich würden wir das Gefühl nicht besonders mögen. Vielleicht sogar alles daran setzen, dass dieses Bild wieder verschwindet. Stellen wir uns weiter vor, jemand, dem unsere Nase nicht passt, der aus irgendwelchen Gründen keinen guten Tag hatte, sieht das Bild und beschließt, seine Frustration an uns auszulassen. Vielleicht werden wir lediglich ein bisschen verprügelt. Vielleicht übergießt man uns mit Spiritus und versucht uns anzuzünden. Vielleicht werden wir beklaut.
Und alles nur, weil irgendjemand auf unsere Situation aufmerksam machen wollte.
Weil irgendjemand wichtig fand, das Leid, das Elend, die Zustände zu zeigen.

Die Privatheit ist ein hohes Gut. Ein Leben im öffentlichen Raum bedeutet den fast vollständigen Verlust der Privatsphäre. Das wenige, was davon bleibt sollte niemand den betroffenen für ein Foto nehmen dürfen.

PS: nachbarschaftspreis.de/de/wooligans